Heißes Eisen

Schneller werden

Mehr Windräder bauen, mehr Photovoltaik-Anlagen installieren, mehr Wasserkraft nutzen – fertig ist die Energiewende? So einfach ist es nicht. In der Aufzählung fehlen die Übertragungs- und Verteilnetze, die den Strom transportieren müssen. Und da gibt es noch einiges zu tun, sagt Martin Schumacher, Vorstandsvorsitzender der Hitachi Energy Germany AG.

 

Die vorgegebene Route ist klar: Bis zum Jahr 2045 muss Deutschland klimaneutral werden. Der Stromsektor geht dabei voran. Im Jahr 2020 lag der Anteil erneuerbarer Energie bereits bei 46 Prozent, 2021 waren es im ersten Halbjahr allerdings nur 42 Prozent, die ersten sechs Monate waren relativ windarm. Ob nun 46 oder 42 Prozent, es sind ja noch einige Jahre bis Mitte des Jahrhunderts. Das stimmt, sagt Martin Schumacher, bei Hitachi Energy verantwortlich für die Länder Deutschland, Österreich und Schweiz, aber er macht noch eine andere Rechnung auf. Der Strom­verbrauch werde sich bis zur Mitte des Jahrhunderts in etwa verdoppeln, nicht zuletzt wegen der Energiewende: Immer mehr Branchen versorgen sich mit Strom, „auch Stahlwerke und die chemische Industrie und nicht zuletzt die Elektromobilität“. Bezieht man die Verdoppelung des Bedarfs ein, stehen wir heute im Verhältnis zum Zielpunkt eben erst bei gerade einmal einem Viertel. 

Die einfache Mathematik zeigt für Martin Schumacher aber auch etwas anderes. „Beim Bau der Netze im vergangenen Jahrhundert hat keiner ­daran gedacht, dass die Menschen Strom mit einer Photovoltaik-Anlage auf dem Dach erzeugen, eventuell mit ihren Elektroautos zwischenspeichern und dann noch Strom ins Netz zurück­speisen – es ging einfach nur darum, Energie in die Haushalte und Unternehmen zu transportieren“, sagt der promo­vierte Elektrotechniker, der im Jahr 1994 bei ABB im Bereich Schaltanlagen einstieg und seit 2016 den Geschäfts­bereich Power Grids in Deutschland und der Schweiz leitet; dieser ist seit Juli 2020 in einem Joint Venture mit ­Hitachi aufgegangen. „Wenn wir die großen Mengen Strom aus erneuerbaren Energien nutzen wollen, müssen wir auch die Netze immer stärker verändern. Die Systeme werden so komplex, dass sie zukünftig teilautonom oder sogar autonom gesteuert werden müssen, damit sie verlässlich funktionieren.“ Außerdem ist ein weiterer Netzausbau notwendig, sagt ­Schumacher, wenn auch Digitalisierung eine höhere Auslastung der Netze ermöglichen und damit den Zubau verringern könne. Eine weitere große Herausforderung ist die Grundlast im Netz. „Wir brauchen gesicherte Leistung: Gestern wurde die auf Basis von Kernkraft und Kohle erbracht, morgen könnten das auch Gaskraftwerke liefern – aber so weit sind wir noch nicht.“ 

Die Entwicklung geht für ­Schumacher zudem zu langsam voran. Um schneller zu werden, müsse die Akzeptanz der Maßnahmen stärker gefördert werden. Dabei hat er besonders eine Gruppe im Blick: „Die Betreibenden der Infrastrukturen bemühen sich, die Industrie hat die Technik parat – aber wir brauchen auch mehr Unterstützung durch die Politik.“ Ein Problem dabei sind die langen Horizonte in der Klimapolitik, sagt ­Schumacher. Nicht, weil man diese Langfristigkeit nicht brauche, sondern vielmehr, weil die Verantwortung so in weite Ferne geschoben würde. „Wenn ein Politiker für vier Jahre gewählt wird, ein Projekt aber über drei, vier Legislaturperioden geplant wird, müsste in allen Zwischenschritten ein durchgängiges Monitoring durchgeführt werden.“ 

 

Ein wichtiger Faktor für die Energiewende ist für ihn auch der Einsatz von Gleichstromleitungen, etwa um die Energie aus Offshore-Windparks in das Stromnetz an Land einzuspeisen. Das NordLink-Projekt, für das ­Hitachi Energy die beiden Konverterstationen in Norwegen und Deutschland gebaut hat, ist ein Beispiel dafür. Die 623 Kilometer lange Hochspannungs-Gleichstrom-Übertragungsverbindung transportiert überschüssigen Strom aus Wind und Sonne von Deutschland nach Norwegen und aus den norwegischen Wasserspeichern in die andere Richtung. „Die Gleichstrom-Technologie hilft uns sehr dabei, möglichst verlustfrei zu arbeiten.“ 

Damit ist es aber noch nicht ­getan. Die Energie von unzähligen Erzeugern aufzunehmen und ins Netz zu speisen, erzeugt an anderer Stelle Handlungsbedarf. Es geht um die sogenannte Blindleistung, die dafür genutzt wird, um die nötige Spannung in den Stromnetzen zu regeln. Traditionell wurde diese von Großkraftwerken bereitgestellt, die in Deutschland im System gleichmäßig verteilt waren. Da Deutschland nun aber schneller und stärker als andere europäische Länder diese Kraftwerke außer Betrieb nimmt, hat sich der Bedarf an Blindleistung, die kraftwerksunabhängig eingespeist wird, stark erhöht. So entsteht hier auch der mit Abstand größte Markt für Lösungen wie elektronische Kompensationseinrichtungen: die sogenannten STATCOMs. Allerdings werden auch für diese Technik die Projekte nach Kundenvorgaben realisiert. Sind Standards in Sicht? Unterschiedliche Verbände auf nationaler und europäischer Ebene beschäftigen sich damit, Technologien zusammenzuführen, sagt Schumacher. Allerdings sei das nicht einfach, weil proprietäre Technik wie in vielen anderen Branchen auch Alleinstellungsmerkmale und Vorteile bietet.

Für Martin Schumacher sind die Herausforderungen in allen Bereichen groß. Er hält allerdings gar nichts davon, den Kopf in den Sand zu stecken, im Gegenteil. „Wir haben die Technologien, die momentan oft über Leuchtturm- oder Modellprojekte eingesetzt werden. Die Industrie braucht aber höhere Stückzahlen, damit es auch wirtschaftlich wird“, sagt ­Schumacher. „Wir müssen einfach dynamischer und schneller werden.“

 

Text Marc-Stefan Andres | Fotografie Alexander Grüber

 

Dieser Artikel ist in der Ausgabe 4.2021 am 6. Dezember 2021 erschienen.



Erschienen in der Ausgabe 4.2021

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